seechat.de wünscht Euch einen schönen sturmfreien Nikolaustag im Gepäck eine Geschichte
Der Einzling:
Was fängt man denn mit einem einzelnen Stiefel an?
Nichts!
Und wenn er ganz neu ist?
Trotzdem nichts!
Mit einem einzelnen Stiefel kann niemand mehr etwas anfangen. Aber wegwerfen, so einfach wegwerfen kann man ihn doch auch nicht, oder? So dachte die Mutter von Michael an dem Abend, als sie vom Krankenhaus heimgekommen war.
Michael war beim Rodeln verunglückt und mit einem Beinbruch ins Krankenhaus gefahren worden. Dort hatte man ihm einen Stiefel aufschneiden müssen, weil man ihn nicht mehr über den angeschwollenen Knöchel herunterziehen konnte.
Na, der Stiefel war wirklich hin!
Aber der andere? Schließlich waren es ganz neue Stiefel gewesen, nigelnagelneue. Was konnte ein Stiefel dafür, dass der andere nicht mehr da war?
Die Mutter legte ihn einfach in die Schuhschachtel zurück, die ebenfalls nigelnagelneu war. So ein Quatsch! Manchmal fällt einem beim besten Willen nichts Gescheites ein.
Das war genau vor einem Jahr Michaels Bein war damals eingegipst worden, und nach sechs Wochen war alles vorbei. Aber natürlich auch der Winter!
Als der nächste Winter vor der Tür stand, hatte Michael zum Geburtstag im November neue Stiefel bekommen. Da kam auf einmal wieder die Schuhschachtel mit dem Einzling ans Licht. »Glaubst du«, fragte Michael die Mutter »ob ihn der Nikolaus füllen wird, wenn ich ihn vor die Tür stelle?«
»Aber sicher«, lachte die Mutter, froh über den glücklichen Einfall ihres Jungen. Dass sie nicht selber auf diese Idee gekommen war! »Probieren wir's aus?«, sagte Michael.
Der Stiefel wurde geputzt und in Form gebracht und am Nikolausabend vor die Tür gestellt. Einzelne Stiefel kann man ruhig vor die Tür stellen. Mit einem einzelnen Stiefel kann niemand etwas anfangen. Außer dem Nikolaus!
Als Michael am Morgen aus der Tür schaute, war der Stiefel wirklich gefüllt. Mit Konfekt und Waffeln bis obenhin. Und mit roten Bändern und Schleifchen verziert.
Michael strahlte. »Es hat geklappt! Es hat geklappt!«, freute er sich und es wurde ein Nikolausmorgen, wie er sein soll. So war der Einzling zu unvorhergesehenen Ehren gekommen. Ein Nikolausstiefel war er geworden. »Wie gut«, sagte die Mutter, »wenn man nicht gleich alles wegwirft. Mit etwas Fantasie lässt sich doch noch allerhand daraus machen!«
Isolde Lachmann (1940-2006)
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